An dieser Stelle möchte ich noch einzelne Aspekte und Überlegungen anführen, die mir besonders wichtig erscheinen.
Fokussierung | Das Fokussieren in der Arbeit mit dem Instrument ist eine große Herausforderung. Dies liegt auch daran, dass man durch die Verfügbarkeit der Fülle von Übungsmaterial in Form von Noten, Playalongs und Tondokumenten vermittelt bekommt, das Material »zu haben«, womit es nur mehr halb so interessant zu sein scheint. Die üppige Verfügbarkeit von Material ist ohne Zweifel ein »Service« der Zeit in der wir leben, mit der man einen der Sache dienlichen Umgang lernen muss. Wichtiger als die Frage, womit man sich beschäftigen soll, scheint mir heute diese zu sein: Was soll man alles weglassen, um Zeit zu gewinnen, in der man sich mit den essenziellen Themen tiefgehend beschäftigt? Ein aktuelles Zitat des Pianisten Fred Hersch scheint mir an dieser Stelle sehr treffend: «If you want to get a deep understanding for the music, you just need to go deep».
Traditionsbewusstsein | Bei aller Sorgfalt in der Wahl des Lernmaterials, der Bücher und Methoden, mit denen man sich beschäftigt, muss die Bedeutung dieses Materials in Relation zu den vielen Tondokumenten der großartigen Vertreterinnen und Vertreter des Jazz gesehen werden. Diese Musik ist nicht mehr Teil der Alltagskultur, weshalb die Vielfalt dessen, was an historischem Tonmaterial heute verfügbar ist, verhältnismäßig wenig Beachtung findet. Die Frage der Notwendigkeit, das Spiel der großen Musikerinnen und Musiker zu studieren, sei dahingestellt und soll hier explizit nicht beantwortet werden. Wichtig ist die Klarstellung, dass hörenderweise die Suche nach Juwelen im Spiel von Louis Armstrong, Clifford Brown, Lee Morgan, Kenny Dorham, Roy Eldridge, Chet Baker, Booker Little, Miles Davis, Art Farmer, Woody Shaw, Freddie Hubbard, Tom Harrell, Randy Brecker, Ralph Alessi etc. anzutreten sehr ergiebig und mindestens gleichbedeutend dem Studium didaktisch aufbereiteter Fachliteratur ist. Die Transkription (Anhören, Notieren und Reproduzieren von Vorbildern) ist ungeachtet dessen, dass man sehr vieles, was auf Tondokumenten heute verfügbar ist, auch ausnotiert kaufen kann, ein unerlässliches Arbeitsfeld. Dabei geht es nicht darum, die Kopie als eigene künstlerische Aussage anzustreben. Vielmehr ist es der vielschichtige Lernprozess, den man beim oftmaligen Anhören der besonders ansprechenden Stücke durchläuft. Das detaillierte Reproduzieren lehrt über melodische Konzepte, Phrasierung, Rhythmusgefühl und Tonvorstellung mehr, als man aus Büchern lesend erlernen kann.
Wiederholen | Die Wiederholung ist für motorisches und mentales Lernen ein notwendiges Prinzip. Das gilt allerdings nur bis zu dem Punkt im Verlauf des Übens, an dem man das Wiederholen auch mental nachvollzieht. Oftmaliges Wiederholen ermüdet den Geist, und man ist gefordert, eine Übung so zu gestalten, dass man den gleichen Anspruch durch eine Variation, durch eine andere Übungsaufgabe erfüllt oder eben den richtigen Zeitpunkt für eine Pause erkennt.
Ökonomie | Die tägliche Übezeit an der Trompete hat aufgrund des hohen physischen Anspruchs Grenzen. In der täglichen Arbeit sollte auf physische Wechselbeanspruchung geachtet werden, und das Prinzip »Pause« ist im Übungsprogramm ein entscheidender Faktor für den Lernfortschritt.
Zuhören | Aus der Perspektive des Zusammenspiels bedingt Virtuosität das Zuhören. Zwar ist das einleuchtend, jedoch muss eine Musikvermittlungskultur, die Playalongs als Hilfsmittel sehr stark einsetzt, bewusst am aktiven Zuhören arbeiten. Sich mit den Menschen auf der Bühne, im Sinne des Dialogs, verbinden zu können, hängt von dieser besonderen Qualität ab. Mit sich selbst und dem Instrument beschäftigt zu sein kann dem in der Praxis entgegenstehen. Geistesgegenwärtigkeit erfordert gleichermaßen Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Umfeld wie auf sich selbst.
Sessionkultur | Die spezielle Qualität die von einer Sessionkultur ausgehend vermittelt werden könnte ist an Voraussetzungen gebunden. Dazu zählt neben dem gemeinsamen Repertoire Unvoreingenommenheit, eigenverantwortliches Handeln, Offenheit, Impulse (im Sinne von Interaktion) von außen aufnehmen, Lust auf Risiko, konstruktive Fehlerkultur – befreit von Angst, reflektierendes Hören, Bewusstsein für Rollenverteilung, geteilte Spielfreude etc. Ein gemeinsames Repertoire (ohne Noten am Pult) mit Stücken in unterschiedlichen Tempi, eine kleine Anzahl von Solisten pro Stück und kompakt gehaltene Soli können die Sessionkultur für alle Beteiligten interessant machen.
Fehlerkultur | In der Improvisation sind Fehlerkultur und Risikobereitschaft zwei stark aneinandergebundene Themenfelder, die sich direkt auf das improvisierte Spiel auswirken. Die unverhältnismäßig starke Bewertung eines Fehlers (eines unvorhergesehenen Ereignisses), führt früher oder später dazu, dass die Risikobereitschaft abnimmt. Improvisiertes Spiel, mit dem vordergründigen Anspruch, keine Fehler zu machen, ist eine denkbar ungünstige Voraussetzung, zur - im besten Fall durch Inspiration sinnerfüllten - künstlerischen Aussage. Dem Vorgang der eigenen »inneren« Bewertung15 liegt ein Mechanismus zugrunde, durch den sich die Wahrnehmung auf das eine Ereignis reduziert und alles Andere plötzlich ausgeblendet wird. Erst dieser Bewertungsvorgang (und nicht der »falsche Ton« an sich) macht aus dem Fehler ein Problem, weil er Musikerinnen und Musiker vom weiteren Verlauf der Musik trennt. Angstfrei auf das Unvorhergesehene eingestellt zu sein, ist eine Frage von Selbstvertrauen und der inneren Haltung. Beides entwickelt sich nicht nur im vertrauten Umfeld.
Freude | Sich über gut Gespieltes der Bandmitglieder freuen zu können, ist heute, in der Zeit, in der Selbstverwirklichung ein wichtiges Motiv darstellt, eine besondere Fähigkeit. Die emotionale Anteilnahme am gelungenen Spiel ist für die Band ein wichtiges Element und verleiht dem Ensemble auf der Bühne Zusammenhalt.
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