Wie kann man im heutigen Umfeld faszinierende Virtuosität erreichen? Dabei muss man berücksichtigen, dass es Virtuosität auf vielen Ebenen, nicht nur der technischen, gibt. Übungsmaterial zu formulieren, durch das es möglich wird, Instrumentaltechnik in Kombination mit musikalischen Denkweisen der Improvisation zu entwickeln, war die spannende Herausforderung des vorliegenden Buchs »concepts for musical skills on trumpet«.
Das Buch ist in Deutscher und Englischer Sprache verfasst.
Titel: Concepts for Musical Skills on Trumpet
Seitenanzahl: 294
Übersetzung: Matthias Müller
Grafiken: Johanna Wögerbauer
ISBN 978-3-200-05259-8
Faszinierende Aufnahmen dokumentieren eine beeindruckende Dynamik in jenem Teil der Musikgeschichte, in dem Jazz und die vielfältig verzweigten jazzverwandten Richtungen entstanden sind. In dieser Zeit, in der ein großer Teil der Gesellschaft am musikalischen Geschehen partizipierte und die aktuelle Musik in der öffentlichen Diskussion auch reflektiert wurde, entstand eine neue Kunstform mit neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Ausgehend von sehr einfachen Songformen erschloss sich der Raum für die Improvisation, die ein zentrales Element in allen Entwicklungsstufen des Jazz darstellt.
Das Vermächtnis dieser Entfaltung vermittelt starke Eindrücke von der kreativen Energie, von der Künstlerinnen und Künstler damals angetrieben sein mussten. Wie kann man nun sein Lernumfeld in der institutionalisierten Musikausbildung der Gegenwart so gestalten, dass dieser kraftsprühenden Entwicklung Rechnung getragen wird? Auch Miles Davis besuchte als junger Mensch das Konservatorium, allerdings war das Lernumfeld seiner Generation durch die kulturelle Dynamik außerhalb der Institute definiert. Bands hatten wochenlange Engagements in den dicht an dicht gereihten Clubs, und Musikschaffende konnten mit Musik am Puls der Zeit ihre Existenz aufbauen. Das Leben in den Jazzclubs mit ihrer Sessionkultur sowie die vielen Konzerte, in denen Musik von den großen Vorbildern Nacht für Nacht intensiv miterlebt werden konnte, bildeten kreative Biotope in den Musikmetropolen der USA.
Jazz wird heute an den gleichen Musikschulen und Musikuniversitäten unterrichtet, an denen auch die Musik von J. S. Bach, W. A. Mozart und Béla Bartók gelehrt wird. Dabei handelt es sich um Bildungsinstitutionen, deren Selbstverständnis durch klassische Musik, ihre Aufführungspraxis und Unterrichtstradition geprägt wurde und an denen sich langsam und vereinzelt, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, kleine Jazzabteilungen entwickeln konnten.
Wie kann man im heutigen Umfeld faszinierende Virtuosität erreichen? Dabei muss man berücksichtigen, dass es Virtuosität auf vielen Ebenen, nicht nur der technischen, gibt. Es braucht viel Geduld, gepaart mit einem liebevollen Umgang mit sich selbst, bis sich mit Virtuosität spielerisch musizieren lässt. Wer nicht in kurzer Zeit die oft ehrgeizigen Ziele erreicht, ist dazu verleitet, sich ausschließlich mit der Problemsuche zu befassen. Den gefundenen »Problemen« wendet man sich dann meist vorrangig zu, wobei potenziell starke Aspekte, welche Musik zu einem späteren Zeitpunkt in anderen musikalischen Umfeldern ausmachen könnten, vernachlässigt werden. In Europa geschieht die musikalische Sozialisation an der Trompete zum größten Teil durch die Blasorchesterkultur. Improvisation ist in dieser Orchesterliteratur weitgehend ausgeschlossen, und klanglich muss man zunächst den Anforderungen der Literatur dieses Klangkörpers entsprechen.
Weit verbreitet ist die Idee vom »additiven« Lernen, derzufolge man zuerst gut Blatt lesen können sollte, einen fertig ausgebildeten Tonumfang bis ins hohe Register braucht, dann noch alle Tonleitern fehlerfrei auf- und abspielen können sollte, um sich dann der Improvisation zuzuwenden. Dabei handelt es sich jedoch schlicht um einen Irrtum. Die positive Bewältigung eines gewiss hohen Übepensums, durch das man eine ausgereifte, virtuose Spieltechnik erarbeiten kann, erfordert viel Motivation, die mit dem emotionalen Erleben durch den Einsatz des Instruments genährt werden muss.
Im Genre Jazz und jazzverwandter Musik sind Musikerinnen und Musiker häufig als Komponisten und Interpreten gleichermaßen aktiv. Die Improvisation liefert Material zur kompositorischen Arbeit und umgekehrt geht man in der Improvisation auch vom kompositorischen Gedanken eines Stücks aus. Für beide Disziplinen sind folgende Fragen zur Musik sehr wichtig:
All diese Überlegungen münden in den Gedanken, technische Übungen frühzeitig mit Musik und den Grundlagen für die Improvisation zu verbinden. Ein Gespräch mit befreundeten Keramikern führte mich zu einer interessanten Analogie im plastischen Gestalten mit Ton - keramische Masse im Rohzustand: Grobkörniger Ton lässt auch bei großer Hingabe nicht leicht eine glatte und geschlossene Oberfläche zu. Weil dies auch Ungeübte sofort erkennen können, werden sie sich erst gar nicht in der Oberflächenverfeinerung eines Objekts verzetteln. So führt die Materialwahl (grobe Masse) dazu, dass nicht die Oberflächenästhetik, sondern Form und Aussage in den Fokus des plastischen Handelns rücken. Ich finde diese Strategie im kreativen Gestalten mit Tonmasse einleuchtend.
Worin liegt in der Musik die Qualität der Formgebung, und was sind die zunächst vernachlässigbaren Details, die Oberflächlichkeiten in der Beschäftigung mit dem Instrument? Die Antworten darauf werden individuell unterschiedlich ausfallen, was auch an der jeweiligen Entwicklung von Musikerinnen und Musikern liegt. Im Verlauf der täglichen Beschäftigung mit Musik ist man stets gefordert, die Entscheidung für den Gegenstand der Auseinandersetzung zu treffen. Aus diesem Grund sollten inhaltliche Fragen immer wieder neu gestellt und in einem anregenden Umfeld auch diskutiert werden.
Zur Heranbildung der Spieltechnik an der Trompete ist die Auseinandersetzung mit lange gehaltenen Tönen, Bindeübungen, Stoßübungen und Übungen für die Fingertechnik erforderlich. In «concepts for musical skills on trumpet» sind Arbeitsmöglichkeiten dargelegt, durch welche instrumentaltechnische Ansprüche mit der »angewandten Theorie« kombiniert werden können.
Das wesentliche Merkmal dabei ist die gedankliche Arbeit im auswendigen Spiel, womit man dem Denken in Strukturen der Musik, anstelle des Lesens, Platz zur Entfaltung verschafft. Damit ist man unmittelbar im Zentrum der »angewandten Theorie«, die ein integrativer Bestandteil der Improvisation ist. Nur wenn auch ohne Notentext Klarheit über Form, Struktur und die harmonischen Verhältnisse besteht, ist man frei für das improvisierte Spiel.
Übungsmodelle und Prinzipien zu formulieren, die es ermöglichen, instrumentaltechnische Anforderungen kombiniert mit musikalischen Fertigkeiten aus dem Bereich der Improvisation auszuarbeiten, war die spannende Herausforderung zum vorliegenden Übungswerk.
Manfred Paul Weinberger,
Weyregg am Attersee, Juli 2017
Copyright 2017 - Manfred Paul Weinberger